Bundesregierung verweigert Transparenz über Abendessen mit Richtern des Bundesverfassungsgerichts

Von Florian Warweg – 21. Oktober 2025

Am 9. Oktober trafen sich Kanzler Merz und sein gesamtes Kabinett zu einem Abendessen mit den Richtern des Bundesverfassungsgerichts. Politische Beobachter sehen in dieser Zusammenkunft hinter verschlossenen Türen eine Vermischung der Gewaltenteilung. Die NachDenkSeiten baten vor diesem Hintergrund die Vertreter der Bundesregierung, hinsichtlich der bei der Zusammenkunft besprochenen Themen für Transparenz zu sorgen. Insbesondere galt die Frage zu klären, ob das Thema einer möglichen Neuauszählung der Bundestagswahl und die massiven Auswirkungen auf Kanzler und Kabinett bei Einzug des BSW in den Bundestag besprochen wurden.

Hintergrund

Das Bundeskanzleramt informierte am 9. Oktober in einer knappen Mitteilung über ein anstehendes gemeinsames Abendessen von Vertretern der Bundesregierung mit den Richtern des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG):

Am Donnerstagabend nehmen der Bundeskanzler und das Bundeskabinett an einem Abendessen mit den Richterinnen und Richtern des Bundesverfassungsgerichts im Bundeskanzleramt teil. Diese Treffen finden seit Jahrzehnten regelmäßig statt und sind ein traditionelles Zeichen der gegenseitigen Wertschätzung zwischen zwei Institutionen des demokratischen Verfassungsstaates.“

Was dabei konkret besprochen wurde, ist nicht bekannt und wird auch grundsätzlich nicht öffentlich gemacht. Dieser Vorgang ist keine Kleinigkeit. Mit dem Abendessen werden die Grenzen der Gewaltenteilung zwischen zwei zentralen Verfassungsorganen, dem Bundesverfassungsgericht und der Bundesregierung, die in einem Rechtsstaat klar gezogen sein sollten, bewusst verwischt. Dies zudem zu einem hochsensiblen Zeitpunkt.

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Wer wird für die Palästinenser sprechen?

Von Vijay Prashad – 21. Oktober 2025

Die palästinensische Politik ist durch jahrzehntelange Besatzung und Israels gezielte Tötung und Inhaftierung populärer Führungspersönlichkeiten geschwächt worden. Israel, die USA und die Golfstaaten sind nun sehr zufrieden damit, ohne palästinensische Vertretung über den Wiederaufbau des Gazastreifens zu sprechen. Politische Anführer wie Marwan Barghouti und Ahmad Sa’adat müssen freigelassen werden, ihre Organisationen müssen offen über die Zukunft Palästinas beraten und diese Ansichten am Verhandlungstisch vertreten können. Alles andere ist lediglich die Fortsetzung des Völkermords mit anderen Mitteln.

Nach und nach wird das ganze Ausmaß der Zerstörung Gazas durch Israel deutlich.

Das Palästinensische Zentralamt für Statistik (PCBS) veröffentlichte etwa zur Zeit des Waffenstillstands einen Bericht, in dem die Zahlen vorgelegt wurden: Die Bombardierung Gazas durch Israel führte zur vollständigen Zerstörung von 190.115 Gebäuden und zur nahezu vollständigen Zerstörung von weiteren 330.500 Wohneinheiten. Die anhaltenden Artillerie- und Luftangriffe während der 734 Tage des Völkermords führten zur Zerstörung von 85 Prozent des Wasser- und Abwassersystems in Gaza.

Zum Zeitpunkt des Waffenstillstands war in Gaza-Stadt nur noch eine einzige medizinische Einrichtung in Betrieb, 94 Prozent der Krankenhäuser und Kliniken waren zerstört oder schwer beschädigt. Gemäß dem PCBS ist Gaza derzeit praktisch nicht mehr bewohnbar.

Es ist unmöglich, das volle Ausmaß der physischen und psychischen Schäden zu erfassen, die dem palästinensischen Volk in Gaza zugefügt wurden: Das Gesundheitsministerium verfügt nicht über ausreichende Zahlen zu den Toten und Verletzten, und das Trauma wird erst im Laufe der Jahre bekannt werden – sofern Spezialisten tatsächlich in die Region zurückkehren können.

Die Vereinten Nationen berichten, dass ihr gesamter Kinderschutzmechanismus in Gaza „fast zusammengebrochen“ ist. Und die UNO stellt fest, dass jedes fünfte Baby in Gaza zu früh oder untergewichtig geboren wird und dass im Juni 2025 11.000 schwangere Frauen mit Bedingungen einer Hungersnot konfrontiert waren, während 17.000 weitere ohne nennenswerte Hilfe mit akuter Unterernährung zu kämpfen hatten.

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Israelisches Massaker an 45 Palästinensern an einem Tag entlarvt das „Friedensabkommen“ als Betrug

Von Andre Damon – 21. Oktober 2025

Seit der Bekanntgabe des „Waffenstillstandsabkommens“ wurden bei 80 verschiedenen Verstößen gegen dessen Bedingungen 97 Palästinenser durch israelische Soldaten getötet. Zudem wurden 230 Menschen bei diesen Angriffen verwundet.

Die anhaltenden israelischen Massaker und die wiederholte, bewusste Einschränkung der Lebensmittellieferungen machen deutlich, dass das „Friedensabkommen“ nichts weiter als ein Deckmantel für den anhaltenden Völkermord war. Regierungen im Nahen Osten und Europa sowie alle großen Medien feierten es als Durchbruch und großen Schritt in Richtung Frieden. Tatsächlich ist es nichts dergleichen. Die israelische Besetzung des Gazastreifens wird dadurch lediglich zementiert und verewigt. Außerdem liefert es die diplomatische Rückendeckung für Israels tägliche Massaker und das vorsätzliche massenhafte Aushungern der Bevölkerung.

Das „Waffenstillstandsabkommen“ führte zwar zur Freilassung aller verbliebenen Geiseln, die sich noch in der Gewalt der Hamas befanden, sieht aber die dauerhafte israelische Besetzung von über 50 Prozent der Enklave vor. Das hat die Bedingungen geschaffen, unter denen Israel die Bevölkerung von Gaza weiterhin ungestraft massakrieren und aushungern kann, nur dass es jetzt unter dem Deckmantel der „Diplomatie“ geschieht.

Die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) bestätigten, dass sie am Sonntag Dutzende von Angriffen im gesamten Gazastreifen durchgeführt haben. Weiter erklärten sie, dabei hätten sie „unter Einsatz von über 120 Stück Munition… sechs Kilometer unterirdische terroristische Infrastruktur angegriffen und zerstört“.

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Presseclub und Wehrpflicht: Debatte unerwünscht

Von Marcus Klöckner – 21. Oktober 2025

Am Sonntag hat der „Presseclub“ zum Thema Wehrpflicht „debattiert“. Die Sendung dokumentiert wie unter einem Brennglas: Einseitigkeit und Qualitätsdefizite prägen in weiten Teilen den milliardenschweren öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Eine Kurzanalyse anhand von Tweets, die die Presseclub-Redaktion auf der Plattform X veröffentlicht hat.

Der „Presseclub“ hat geladen. Das Thema Wehrpflicht soll „debattiert“ werden. Vier Gäste sind im Studio.

Zunächst zum Selbstverständnis des „Presseclubs“. Auf der ARD-Webseite heißt es:

Der Presseclub ist eine aktuelle Diskussionssendung, in der das jeweils wichtigste politische Thema der Woche aufgearbeitet wird. Journalistinnen und Journalisten mit unterschiedlichen Standpunkten analysieren aus unterschiedlichen Blickwinkeln politische Ereignisse und Entwicklungen. Dabei wird der Hintergrund von Schlagzeilen aufgehellt, und es entsteht im Dialog ein Wettstreit um die Interpretation von politischen Vorgängen. Für das Publikum ergibt sich damit ein Angebot von Meinungen, die sich in der Diskussion überprüfen lassen müssen und auf diese Weise ihre Glaubwürdigkeit und Plausibilität unter Beweis stellen müssen.

In den Ausführungen spiegelt sich der Kernauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wider, das heißt: für Land und Gesellschaft zentrale Themen aufgreifen, aufarbeiten, unterschiedliche Perspektiven sichtbar machen, Dialog und Diskussion herstellen, aber auch kritisch analysieren.

Das Problem: Es gibt einen Unterschied zwischen Selbstdarstellung und der Realität.

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„Unser Militär ist dem russischen Militär unendlich überlegen“ – Wieso dann die ganze Aufrüstung?

Von Florian Warweg – 20. Oktober 2025

NATO-Generalsekretär Mark Rutte hat bei der jüngsten Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in Slowenien erklärt, die NATO sei Russland militärisch „unendlich überlegen“, wirtschaftlich sei man 25-mal größer und die russische Luftwaffe könne nicht einmal ansatzweise mit der der NATO mithalten. Die NachDenkSeiten wollten vor diesem Hintergrund wissen, ob Kanzler Merz und Verteidigungsminister Pistorius diese Einschätzung teilen und wenn ja, wie sie dann den aktuellen Aufrüstungs- und Bedrohungsdiskurs der Bundesregierung rechtfertigen.

„Als NATO sind wir 25-mal größer als die russische Wirtschaft. Unser Militär ist dem russischen Militär unendlich überlegen. Was unsere Luftwaffe angeht, so können die Russen mit ihren MiG-31 oder wie auch immer sie heißen nicht einmal im Schatten mithalten, weil sie keine gut ausgebildeten Kampfpiloten sind.“

So die Aussage des amtierenden NATO-Generalsekretärs Mark Rutte im Wortlaut am 13. Oktober anlässlich der Jahrestagung der Parlamentarischen Versammlung der NATO in der slowenischen Hauptstadt Ljubljana:

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Auf dem Weg in den Welt-Wirtschaftskrieg

Von Stefan Heidenreich – 20. Oktober 2025

Langsam gleitet die Welt in einen großen Wirtschaftskrieg. Die Gründe des Konflikts liegen offen zutage. Rund um die Welt hat sich die Produktion von Gütern in den letzten Jahrzehnten massiv verschoben. Legt man die nach Kaufkraft gewichtete Wirtschaftsleistung zugrunde, waren die Vereinigten Staaten im Jahr 2000 dreimal so groß wie China. Deutschland lag nur knapp dahinter. Nach den neuesten Zahlen nimmt China mit beträchtlichem Vorsprung den Spitzenplatz ein und übertrifft Deutschland um das Sechsfache. Beschränkt man sich auf die Produktion materieller Güter und lässt den in New York stark aufgeblähten Bankensektor beiseite, fällt der Vorsprung noch erheblich größer aus. So stellt China etwa zehnmal so viel Stahl her wie die Vereinigten Staaten. Von Stefan Heidenreich.

Der treibende Faktor des Wandels lag nicht im fernen Osten, sondern vor allem in den Unternehmen des Westens. Mit in China günstig hergestellten Gütern ließen sich enorme Gewinne machen. Dass dabei die eigene industrielle Basis geschwächt wurde, nahm man in Kauf.

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Die Tribute von Big Agro

Von German-Foreign-policy.com – 21. Oktober 2025

Der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung sieht durch die zunehmende Konzentration von Konzernmacht im Lebensmittelsektor die Versorgungssicherheit gefährdet – auch durch deutsche Unternehmen.

Der Bericht des UN-Sonderberichterstatters für das Recht auf Nahrung, Michael Fakhri, über Konzernmacht und Menschenrechte in der Nahrungsmittelproduktion konstatiert kontinuierlich zunehmende Konzentrationsprozesse und eine daraus folgende Bedrohung für das Recht auf Nahrung und andere Menschenrechte. Die Konzentrationsprozesse stabilisieren Fakhri zufolge zudem das agroindustrielle Modell mit all seinen negativen Auswirkungen auf Umwelt und Klima. Deutsche Unternehmen wie Bayer, BASF und die EW Group gehören zu den in dem Report erwähnten Firmen, die diverse Sparten des Agro-Weltmarktes dominieren. Kritik erfährt auch die Agrarpolitik der EU, weil deren Subventionssystem die Größe von Betrieben honoriert und so das Höfesterben fördert. Zur Begrenzung der Konzernmacht setzt Fakhri auf das Unternehmensrecht, obwohl es Defizite aufweist; er empfiehlt, die Staaten sollten juristische Mittel nutzen – darunter das nationale und das internationale Strafrecht –, um die Konzerne in ihre Schranken zu weisen. Darüber hinaus appelliert sein Bericht an die Regierungen, sich an den Verhandlungen über ein UN-Abkommen zur Regulierung der Geschäftspraxis multinationaler Unternehmen zu beteiligen.

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Vom Drohnen- zum Weltraumkrieg

Von German-Foreign-Policy.com – 20. Oktober 2025

Der neue EU-Rüstungsfahrplan sieht umfassende Produktions- und Beschaffungsmaßnahmen bei Drohnen und im Weltall vor. Er begünstigt Deutschland in seinem Bestreben, zu Europas stärkster konventioneller Militärmacht zu werden.

Der neue „Fahrplan für Verteidigungsbereitschaft“ der EU sieht umfassende Hochrüstungsmaßnahmen bei Drohnen und im Weltall vor und begünstigt einen Aufstieg der Bundeswehr zur konventionell stärksten Streitmacht Europas. Das Dokument, das die EU-Kommission in der vergangenen Woche vorgelegt hat und das in dieser Woche von den Staats- und Regierungschefs verabschiedet werden soll, legt neun Schwerpunktbereiche sowie vier Leuchtturmprojekte zur Militarisierung der EU fest. Dabei sollen sich jeweils mehrere EU-Staaten zu „Koalitionen“ zusammentun, um die Entwicklung und die Produktion von Waffensystemen zu konzentrieren. Deutschland beansprucht laut Berichten die Führung über fünf der neun Koalitionen. Die Leuchtturmprojekte sind exakt in Bereichen angesiedelt, in denen die Bundesregierung die eigene Hochrüstung vorantreiben will – insbesondere bei Drohnen, in die Berlin in den nächsten Jahren bis zu zehn Milliarden Euro steckt, und bei der Militarisierung des Weltalls, für die 35 Milliarden Euro vorgesehen sind. Die immense Steigerung der deutschen Rüstungsausgaben erlaubt Berlin in diesen – und anderen – Bereichen den Durchmarsch auf dem Weg, zu Europas stärkster Militärmacht zu werden.

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Ist Trumps Friedensplan nur eine Täuschung?

Von Martin Jayvon (Übersetzung: Thomas Röper) – 20. Oktober 2025

Trumps Friedensplan hat Hoffnung auf ein Ende des israelischen Völkermordes in Gaza gemacht, doch immer mehr Analysten meinen, er sei eine Täuschung und werde nicht lange halten. […]

Das russische Fernsehen hat den Plan in einem Beitrag […] verhalten optimistisch eingeschätzt, aber auch festgestellt, dass Trump sich in dem Plan de facto die Herrschaft über den Gazastreifen angeeignet hat, indem er sich selbst zum Vorsitzenden des Komitees gemacht hat, das nun das Schicksal des Gazastreifens regeln soll.

Aber trotz allem Optimismus gibt es weiterhin israelische Angriffe mit Dutzenden toten Zivilisten täglich, womit Netanjahu die Hamas anscheinend zu Reaktionen provozieren will, um einen Vorwand zu haben, den Krieg wieder aufzunehmen. Auch die Lieferung humanitärer Hilfe nach Gaza hat Israel schon wieder ausgesetzt.

Das hat ein britischer Autor in einem Artikel vorhergesehen, der am schon am 15. Oktober auf der Seite eines russischen Thinktanks veröffentlicht wurde. Ich habe den Artikel übersetzt. […]

Trumps Gaza-„Friedensplan“ ist eine Täuschung, dies wird in der Realität passieren

Es gibt kaum Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden im Gazastreifen – und gerade der Geiselaustausch könnte der Auslöser dafür werden, dass die Waffenruhe bricht.

Von Martin Jay | Strategic Culture Foundation

Wie viel Vertrauen kann man in das kürzlich angekündigte Waffenstillstandsabkommen setzen, das sowohl von Israel als auch von Hamas gebilligt und wohl von US-Präsident Donald Trump vermittelt wurde? Wer sind die Gewinner und wer die Verlierer? Und wie viel von dem, was die westliche Presse berichtet, entspricht überhaupt der Wahrheit?

Leider ist das Bild düster und es gibt wenig Grund zur Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden im Gazastreifen, hauptsächlich deshalb, weil das sogenannte Abkommen kein Friedensvertrag, sondern eher ein temporärer Waffenstillstand zur Befreiung der israelischen Geiseln ist. Nicht viel mehr als das.

Gewiss umfasst der 20-Punkte-Plan mehr, doch die meisten Punkte sind vage formuliert und interpretationsfähig – kein gutes Zeichen, wenn man den Plan ernst nehmen soll. Vielleicht war er nie dazu gedacht, ernst genommen zu werden. Wie ich bereits zuvor schrieb, ist es wahrscheinlich, dass Trump das Ganze in letzter Minute hastig zusammenstellen ließ, da die mediale Aufmerksamkeit plötzlich auf die EU-Initiativen und die mögliche UN-Friedensinitiative gerichtet war.

Die wahren Gewinner: Trump und Netanjahu

[…] Von seinem ersten Tag im Amt an hätte Trump das Massaker in Gaza beenden können, doch er entschied sich, Netanjahu voll zu unterstützen, unter anderem durch zahlreiche genehmigte Waffenlieferungen. Für Netanjahu wiederum ist der politische Gewinn, 20 Geiseln lebend zu ihren Familien zurückgebracht zu haben, unbezahlbar. Und so werden – grob gesagt – Trump und Netanjahu sich selbst auf die Schultern geklopft haben, nachdem die Geiseln freigekommen sind.

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Israel nach dem 7. Oktober: Zwischen Entkolonialisierung und Zerfall*

Von Ilan Pappé (Übersetzung: Andreas Mylaeus) – 20. Oktober 2025

Es ist schwer vorherzusagen, was in Israel geschehen wird, aber die Geschichte könnte uns einen Hinweis geben.

Seit dem 7. Oktober 2023 ist ein Jahr vergangen, und es ist an der Zeit zu untersuchen, ob wir dieses monumentale Ereignis und alles, was darauf folgte, besser verstehen.

Für Historiker wie mich reicht ein Jahr normalerweise nicht aus, um aussagekräftige Schlussfolgerungen zu ziehen. Was jedoch in den letzten zwölf Monaten geschehen ist, fällt in einen viel breiteren historischen Kontext, der mindestens bis 1948 zurückreicht, und ich würde sogar behaupten, bis zur frühen zionistischen Besiedlung Palästinas im späten 19. Jahrhundert.

Daher können wir als Historiker das vergangene Jahr in die langfristigen Prozesse einordnen, die sich seit 1882 im historischen Palästina vollzogen haben. Ich werde zwei der wichtigsten davon untersuchen.

Kolonisierung und Entkolonisierung

Der erste Prozess ist die Kolonisierung und ihr Gegenteil – die Entkolonisierung. Die israelischen Aktionen im Gazastreifen und im besetzten Westjordanland im letzten Jahr haben der Verwendung dieser beiden Begriffe neue Glaubwürdigkeit verliehen. Sie wurden aus dem Vokabular der Aktivisten und Akademiker der Pro-Palästina-Bewegung in die Arbeit internationaler Tribunale wie des Internationalen Gerichtshofs übernommen.

Die etablierte Wissenschaft und die Medien weigern sich nach wie vor, das zionistische Projekt als koloniales oder, wie genauer gesagt wird, als siedlerkoloniales Projekt zu definieren. Da Israel jedoch im nächsten Jahr die Kolonisierung Palästinas intensiviert, könnte dies mehr Einzelpersonen und Institutionen dazu veranlassen, die Realität in Palästina als kolonial und den palästinensischen Kampf als antikolonial zu bezeichnen und auf Tropen über Terrorismus und Friedensverhandlungen zu verzichten.

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* Der Originalbeitrag erschien am 7. Oktober 2025 bei Al Jazeera unter dem Titel „Israel after October 7: Between decolonisation and disintegration“.