Der ukrainische Angriff auf die globale Sicherheit

Interview mit Leo Ensel. Interview: Hans-Peter Waldrich – 29. Mai 2024

Der Angriff der Ukraine auf Module des russischen Frühwarnsystems gefährdet nicht zuletzt unsere eigene Sicherheit. Für eine „Kopernikanische Wende in der Sicherheitspolitik“ plädiert Leo Ensel, Konfliktforscher und Publizist. „Im Atomzeitalter ist Sicherheit nur noch zusammen mit, nie aber gegen den ‚Gegner‘ möglich!“, sagt er. – Das Gespräch führte Hans-Peter Waldrich.

Hans-Peter Waldrich: Herr Ensel, die Ukraine hat am 23. Mai im Nordkaukasus in Armawir und am 26. Mai im sibirischen Orenburg Teile des russischen Atomraketen-Frühwarnsystems mit Drohnen attackiert. Die Radare dienen dazu, einen möglichen nuklearen Erstschlag der NATO zu erkennen. Sie sind Mitglied einer Initiative von Informatikern, KI-Spezialisten und Politikwissenschaftlern, die warnt, solche Angriffe könnten einen Atomkrieg auslösen. Was ist daran so gefährlich?

Leo Ensel: Zunächst: Ich bin zwar Mitglied der von Informatikern ins Leben gerufenen Initiative gegen einen „Atomkrieg aus Versehen“, aber selbst kein Informatiker, sondern Konfliktforscher. – Man muss aber kein Informatiker sein, um die Tragweite der ukrainischen Angriffe auf Module des russischen Raketenabwehrsystems zu erkennen:

Die globale „Sicherheitsstruktur“ – wenn man sie überhaupt so nennen darf – zwischen den Atommächten USA und Russland beruht nach wie vor, wie im ersten Kalten Krieg, auf dem „Prinzip der gesicherten Zweitschlagfähigkeit“. Auf Deutsch: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter! Wenn die russische Zweitschlagfähigkeit – z. B. durch gezielte Attacken auf Module des russischen Raketenabwehrsystems, dessen Aufgabe es ist, anfliegende ballistische US-Interkontinentalraketen rechtzeitig zu identifizieren – ausgeschaltet oder auch nur eingeschränkt wird, wäre Russland „geblendet“. Es könnte also im Krisen- oder Ernstfall nicht mehr rechtzeitig reagieren. (By the way: In der Logik der wechselseitigen Abschreckung würde es bereits ausreichen, wenn Russland sich geblendet fühlen würde!) Damit wäre die – extrem wackelige – Logik, auf der die „Sicherheit“ unseres gesamten Planeten seit Jahrzehnten basiert, eliminiert und die Wahrscheinlichkeit, dass Russland in einem akuten „gefühlten Krisenfall“, womöglich mit Atomwaffen, irrational handelt, würde in astronomischem Ausmaß anwachsen.

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