Forschung als Flaschenpost. Ein Nachruf

Wer die Wahrheit sucht, wird immer wieder anecken: Zum Tod des Historikers und Philosophen Werner Röhr (1941–2022)

Von Karl Heinz Roth – 7. Januar 2023

An der Hoffnung festhalten: Werner Röhr (Foto: Annette Schymalla)

Am 29. Dezember ist der Historiker und Philosoph Werner Röhr im Alter von 81 Jahren in einem Berliner Pflegeheim gestorben. Seine letzten Lebensjahre waren von gesundheitlichen Katastrophen überschattet. Verbissen kämpfte er gegen sie an. Nun hat er das aussichtslos gewordene Ringen verloren. Die Todesnachricht kam trotzdem unerwartet.

Ein unbeschwertes Leben kannte Röhr wohl nie. Er entstammte einer Familie der Arbeiterbewegung, sein Vater starb in Stalingrad. Als kleiner Junge wurde er aus seiner zerbombten Geburtsstadt Berlin nach Wernigerode evakuiert. Dort wurde seine Mutter nach der Befreiung als Junglehrerin tätig. Der Halbwaise wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Aber er war vielseitig begabt. Er gründete an der Oberschule einen marxistischen Arbeitskreis und entwickelte zahlreiche – auch musische – Fähigkeiten. Nach dem Abschluss an der Oberschule kehrte er nach Berlin zurück und begann an der Humboldt-Universität ein Studium der Philosophie und Geschichtswissenschaft. 1971 wurde er mit einer Arbeit über den philosophischen Anthropologen Arnold Gehlen promoviert, dessen auf Anpassung und Gehorsam getrimmte »Institutionenlehre« er kritisch unter die Lupe nahm. Fünf Jahre später folgte die Promotion B, die faktische Habilitationsschrift, in der er das Problem der Aneignung untersuchte. Dabei entwickelte er eine Antithese zu Gehlen mit unmittelbarem Praxisbezug. Er entwarf eine materialistische Anthropologie, die den Prozess der Vergesellschaftung mit der Herausbildung selbstbewusst handelnder Individuen verknüpfte. Für Röhr stand und fiel die sozialistische Perspektive mit der Entfaltung einer spezifischen Persönlichkeit, die sich die Wirklichkeit immer wieder neu aneignet und in sie verändernd eingreift.

Maxime eines Lebens

Das war eine bemerkenswerte intellektuelle Visitenkarte. 1977 erhielt Röhr eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften. Die Türen schienen dem sich für die Erneuerung des DDR-Sozialismus engagierenden Nachwuchsakademiker weit offenzustehen.

Aber es kam anders. Der materialistisch gewendete Wahrheitsbegriff war zu Röhrs Lebensmaxime geworden. Das hatte Folgen, denn er schloss taktisches Verhalten und Anpassungen aus, die das Vorankommen erleichtern. Er war aber auch unduldsam denjenigen Kolleginnen und Kollegen gegenüber, bei denen er opportunistische Tendenzen oder mangelnde analytische Kompetenz wahrnahm. So eckte er immer wieder an – bei Vorgesetzten und Kollegen gleichermaßen. Als er in einer philosophiegeschichtlichen Quellenedition das DDR-offizielle Geschichtsbild des Nationaldichters Goethe dekonstruierte, sorgte er in den kulturpolitischen Spitzeninstanzen der DDR für helle Aufregung. 1981 wurde er aus der SED ausgeschlossen, weil er gegen die Abstrafung eines dissidenten Philosophenzirkels an seinem Institut protestiert hatte.

Er wurde an das Akademie-Institut für Geschichte strafversetzt, dem er bis zu seiner Auflösung im Jahr 1991 angehörte. Dort arbeitete er in Forschungsgruppen mit, die die Expansionspolitik des deutschen Faschismus rekonstruierten. Die obrigkeitlich verordnete Kooptation erwies sich rasch als Glücksfall, denn Röhrs methodische und begriffliche Kompetenz wurde dort dringend benötigt. Spannungen konnten dabei nicht ausbleiben, aber seine Forschungsgruppenleiter wussten mit ihm umzugehen. 1989 veröffentlichte Röhr im Rahmen der Quellenedition »Europa unterm Hakenkreuz« einen mustergültig bearbeiteten und kommentierten Dokumentenband über die Okkupation und Vernichtung Polens. Als die Ressourcen der DDR-Geschichtswissenschaft zwei Jahre später zerstört wurden, fehlten noch die abschließenden Vergleichsstudien und der Registerband. Nun ergriff Röhr die Initiative. Es gelang ihm und einem Team engagierter Mitarbeiterinnen, innerhalb von fünf Jahren zwei Ergänzungsbände zu veröffentlichen, die das Projekt »Europa unterm Hakenkreuz« zu einer erstrangigen Publikation der vergleichenden Okkupationsforschung gemacht haben.

Die Wahrheit liegt im Widerspruch: Werner Röhr (r.) mit Dichter Peter Hacks (l.) und Philosoph Hans Heinz Holz (Empfang zu Hacks’ 70. Geburtstag an der HU Berlin, 1998) Foto: privat

Anpassung ausgeschlossen

Auf diese Anstrengung folgten zwei weitere Jahrzehnte intensiven historiographischen und geschichtspolitischen Arbeitens, die im Rückblick außergewöhnliche Dimensionen gewinnen. Es gelang Röhr und anderen »abgewickelten« Kolleginnen und Kollegen, einen organisatorischen Rahmen zu schaffen, der die Folgen ihrer Ausgrenzung weitgehend zu kompensieren vermochte: die Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung, ein ihr zugeordnetes Bulletin und einen Wissenschaftsverlag (Edition Organon). In diesem Netzwerk entstanden, auch diesmal keineswegs konfliktfrei, erstaunliche Ergebnisse, die wichtige Aspekte der historischen Faschismusanalyse thematisierten. Sie wurden hierzulande totgeschwiegen, nicht aber im Ausland. Doch sie sind in der Welt und werden noch ihren Weg machen.

Es gibt einen weiteren Schwerpunkt, der Röhr einen bleibenden Platz in der Historiographiegeschichte sichern wird: seine kritische Begleitforschung zur »Abwicklung« der DDR-Geschichtswissenschaft durch den Mainstream der westdeutschen »Zunft«. Röhr ergänzte seine früheren Recherchen durch die systematische Befragung und Berichterstattung seiner marginalisierten Kolleginnen und Kollegen und publizierte 2011 eine minutiöse Darstellung der »Abwicklung«, die ihm und einer ganzen Historikergeneration den Boden unter den Füßen weggezogen hatte. Ein Jahr später folgte ein zweiter Band, eine Art Gegenevaluierung, in der er die Stärken und Schwächen der DDR-Geschichtsschreibung anhand einiger repräsentativer Schwerpunkte gegeneinander abwog.

Dass sich Röhr weiteren Forschungsfeldern widmete und mehreren ausgegrenzten Vorbildern und Weggefährten Denkmäler setzte, so etwa dem Maler Fritz Duda und dem Ökonomen und Publizisten Hans Günther, kann ich hier nur anmerken. Zudem übernahm er Mitte der 90er Jahre eine Gastprofessur an der Universität im polnischen Zielona Gora, aus den dort gehaltenen Vorlesungen ging eine bemerkenswerte Studie über die antike Philosophie hervor.

Vielleicht war es eine List der historischen Vernunft, dass der ohnedies zum Scheitern verurteilte Praxisphilosoph in die historische Forschung hineinkatapultiert wurde. Dort hat er auf den institutionellen Untergang seines Fachs mit historischen Analysen geantwortet, die die vergleichende Okkupationsforschung enorm bereichert haben. Hinzu kommt die Dokumentation der »Abwicklung«. Auch sie ist in der Welt, wenn auch nur als Flaschenpost. Spätere Generationen werden sie öffnen und über jenen Historiker staunen, der die Nomenklatura seines Lands äußerst kritisch beurteilte und trotzdem an den Hoffnungen festhielt, die er mit der DDR verbunden hatte. Als ihn ein westdeutscher Fachkollege einmal am Rand einer Tagung fragte, wie er sich jetzt als Bürger eines »neuen Bundeslands« fühle, erwiderte Röhr, er habe seine soziale, kulturelle und poetische Heimat verloren. Jetzt sei er vaterlandslos – und zwar für immer.

Quelle: Tageszeitung junge WeltAusgabe vom 07.01.2023, Seite 11/Feuilleton