Von Dmitri Trenin – 27. September 2024
Dmitri Trenin, der Leiter des Instituts für militärische Weltwirtschaft und Strategie an der Nationalen Forschungsuniversität Higher School of Economics in Moskau und ein führender Forscher am Primakov-Institut für internationale Beziehungen der Russischen Akademie der Wissenschaften, ist den politisch interessierten Zuschauern und Zuhörern des russischen Fernsehens bekannt. Sie schätzen seine differenzierten Ansichten zur geopolitischen Situation und deren wirtschaftliche Auswirkungen. […] (cm)
„Ukraine-Krise“ ist eine ungenaue Bezeichnung für das, was derzeit in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen geschieht. Diese Konfrontation ist von globaler Tragweite. Sie umfasst praktisch alle Funktionsbereiche – vom Finanzwesen über die Pharmazie bis hin zum Sport – und erstreckt sich auch über viele geografische Regionen. In Europa, dem Epizentrum dieser Konfrontation, sind die Spannungen nach der Ukraine nun im Baltikum am größten. In Russland (und auch im Westen) wird oft die Frage gestellt, ob die baltische Region zum nächsten Kriegsschauplatz werden wird.
In Europa und Amerika wird seit langem darüber spekuliert, dass die russische Armee nach dem Sieg in der Ukraine weiter vormarschieren wird, nun mit dem Ziel, die baltischen Republiken und Polen zu erobern. Der Zweck dieser simplen Propaganda-Phantasie ist klar: Die Europäer sollen davon überzeugt werden, dass sie einen Krieg auf ihrem eigenen Territorium bekommen können, wenn sie nicht „voll und ganz“ in die Unterstützung Kiews investieren. Bezeichnenderweise wagt es fast niemand in der EU, öffentlich zu fragen, ob Russland selbst an einem direkten bewaffneten Konflikt mit der NATO interessiert ist, welche Ziele es in einem solchen Krieg zu verfolgen gedenkt und welchen Preis es zu zahlen bereit ist. Es liegt auf der Hand, dass allein schon die bloße Stellung solcher Fragen den Vorwurf der Verbreitung russischer Propaganda nach sich ziehen könnte.