Von Jürgen Mietz – 2. Oktober 2025
Der desolate Zustand der Friedens- und Protestbewegung gegen Krieg und Aufrüstung ist Zeichen eines abgestorbenen gesellschaftlichen Dialogs, eines Endes von demokratischem Engagement und zivilisatorischem Fortschritt, von dem man glauben mochte, seit 1968 sei man dabei, ihn in kleinen Schritten gewonnen zu haben.
Was geschah in den letzten 40 Jahren – aber auch in den Jahrzehnten zuvor, denn die Nachkriegszeit dürfen wir nicht übergehen –, dass dieses Ergebnis möglich wurde? Erst wenn wir diese Entwicklung verstehen, wird die Friedensbewegung Aussicht haben, Zulauf und Sympathien zu bekommen. Ansonsten wird es dabei bleiben, dass eine klein bleibende Friedensbewegung leerdreht und zum demokratischen Feigenblatt degeneriert.
Konnten sich einst Proteste noch an Politikern, Intellektuellen, an Personen mit einem Renommee anlagern und entfalten und damit eine sich selbstverstärkende Resonanz erzeugen, so fällt dieser Impuls heute weg. Konnten die einstigen Protestbewegungen auf dem prägenden Untergrund von noch hautnahen Kriegserfahrungen, von Lehren, die man zu ziehen hoffte, von einer Emphase des Neubeginns Dynamik entfachen, haben sich die „Bodenverhältnisse“ heute geändert. Sie sind glatt und rutschig geworden, das Sensorium ist darauf gerichtet, einen legitimierten Korridor nicht zu verlassen und ansonsten das, was man denkt und fühlt, als Geheimnis zu behandeln [1].
(1.) Zielstrebige Illusionierungsarbeit der Eliten
Protest- und Friedensbewegungen haben es versäumt, zentrale Veränderungen im gesellschaftlichen Gefüge der letzten Jahrzehnte zu begreifen und über sie zu reden, sich darüber zu streiten, welche Strukturen und Triebkräfte die Gesellschaft bewegen. Insofern ist die Friedensbewegung Abbild der Gesellschaft und selbst in einem bedrohlichen Zustand des (Nicht-)Erkennens gesellschaftlicher Entwicklungen verfangen. Man könnte auch sagen: Sie (Friedensbewegung und Gesellschaft) haben die eigene Bildungs- und Reflexionsarbeit aufgegeben oder gar nicht erst begonnen. Beide befinden sich in einem ständigen Zyklus der Selbstberuhigung und der Bestätigung dessen, was ist. Die zerstörende Kraft des profitsüchtigen Kapitalismus und seine unterstellte Unumgehbarkeit, wie auch der in sich zusammengefallene Sozialismus scheinen alles radikale (an die Wurzeln gehende) Denken obsolet gemacht zu haben.
Die Eilfertigkeit, mit der Putin aus der Friedensbewegung heraus zum Kriegsverbrecher gestempelt wird, ist ein Hinweis darauf, wie mürbe die Unabhängigkeit der Friedensbewegung geworden ist. Die zahlreichen Verbrechen des sog. wertebasierten Westens, des westlichen, kolonialbasierten Kapitalismus, bleiben unerwähnt und werden verleugnet. Man könnte glauben, dass darin keine Quellen für Kriege, Krisen und Katastrophen liegen. Verzicht auf politökonomische und geopolitische Analysen scheinen zum Mittel geworden zu sein, um es sich mit den Herrschenden oder auch den ratlosen, verwirrten Massen, die man gewinnen will, nicht zu verderben. Zudem versucht man sich darin, dem staatlicherseits ausgerufenen Antifaschismus und einem sog. Kampf gegen rechts gerecht zu werden. Aber hat die Friedensbewegung dadurch an Resonanz gewonnen?
(2.) Offensichtlich hat in der Friedensbewegung das stattgefunden, was auch in der Gesellschaft stattfand – Anpassung
Was man als Übergang zu einer neoliberalen und postindustriellen Gesellschaft bezeichnen könnte, griff tief in die psychischen Apparate der Menschen ein. Die Menschen lernten, sich selbst und die Welt mit einem anderen Blick, dem der Konkurrenz, der Entsolidarisierung und des Marktes zu sehen. Ihr Denken und Fühlen wurde aus scheinbar stabilen Strukturen herausgerissen, die ihnen Wohlstand, soziale Sicherheit und Frieden versprachen und, verglichen mit heute, tatsächlich auch geboten hatten. Und nun wurde ihnen erzählt, dass das alles gefährdet sei, wenn sie sich nicht neoliberalen Forderungen unterwerfen würden.