Von Rainer Werning – 30. April 20250
Das hatte es in der jüngeren Geschichte noch nie gegeben. Vor 50 Jahren, am 30. April 1975, geriet eine Supermacht in Panik: Ihr diplomatisches Corps und ein Tross vietnamesischer Lakaien rauften sich auf dem Dach der US-Botschaft in der südvietnamesischen Hauptstadt Saigon um die letzten Helikoptersitze in die Freiheit. So überstürzt die Evakuierung eines gedemütigten Uncle Sam verlief, so diszipliniert marschierten gleichzeitig die siegreichen Verbände der Nationalen Befreiungsfront (FNL) in die Stadt ein, die später in Ho-Chi-Minh-City umbenannt werden sollte. Die „Arroganz der Macht“ hatte einen argen Dämpfer bekommen. Es war J. William Fulbright, der diesen Begriff in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des US-Senatskomitees für Auswärtige Beziehungen auf dem Höhepunkt des Vietnamkriegs Mitte der 1960er-Jahre geprägt hatte. Eine Nachbetrachtung unseres Südostasienexperten Rainer Werning.
Hätten die großen Amerikaner auf ihren kleinen NATO-Verbündeten Frankreich gehört und sorgfältig dessen Debakel in Dien Bien Phu studiert, wo die frühere Kolonialmacht bereits 1954 eine herbe Niederlage im Kampf gegen die von Ho Chi Minh und seinem genialen Strategen, General Vo Nguyen Giap, geführten vietnamesischen Widerstandskämpfer einstecken mussten, wäre auch ihnen selbst großes Leid erspart geblieben. Der Krieg forderte schließlich weit über drei Millionen Todesopfer – zwei Millionen vietnamesische Zivilisten, über eine Million nordvietnamesische Soldaten, über 200.000 südvietnamesische Soldaten sowie annähernd 41.000 in Kampfhandlungen ums Leben gekommene GIs. Von der Verwüstung ganzer Landstriche Vietnams und der Nachbarländer Kambodscha und Laos ganz zu schweigen! Und all das, obgleich US-Luftwaffengeneral Curtis E. LeMay seinerzeit schwadroniert hatte, „Vietnam in die Steinzeit zurückzubomben”. So warf die US-Luftwaffe allein in den ersten drei Kriegsjahren 2,5 Millionen Tonnen Bomben auf das Land ab – mehr als im gesamten Zweiten Weltkrieg. Bereits 1968 waren 40 Prozent der nordvietnamesischen Orte zerstört, und dennoch war kein amerikanischer Sieg in Sicht.