Interview mit Jacques Baud*. Interview: Zeitgeschehen im Fokus – 29. Mai 2025 (ZIF 8)
Zeitgeschehen im Fokus: Noch immer vertritt der Westen die Auffassung, insbesondere die westlichen Medien und sogenannte Militärexperten, mit genügend Waffen könne die Ukraine Russland besiegen. Wie lange kann sich der Krieg noch hinziehen? Es hieß doch immer, dass der Ukraine die Soldaten ausgehen.
Jacques Baud: Grundsätzlich ist diese Auffassung falsch. Das zeigt sich in Gaza: Nicht die Bewaffnung ist der Hauptfaktor für den Sieg, sondern die Art und Weise, wie gekämpft wird. Im Westen haben wir den Krieg grundsätzlich als ein materielles und quantitatives Phänomen verstanden.
In Wirklichkeit spielen Technik und Technologie zwar eine wichtige Rolle. Vor allem aber sind ausschlaggebend die Entschlossenheit sowie die Abstimmung der Strategie auf die Ziele, die Ressourcen und deren Koordination. Den Palästinensern gelingt es, die israelische Armee in Schach zu halten, von der es heißt, sie sei die mächtigste, am besten ausgerüstete, modernste und brutalste Armee des Nahen Ostens.
Den Taliban gelang es, das angeblich mächtigste Militärbündnis der Welt in Schach zu halten. Den Houtis gelingt es, den unverwundbaren israelischen Iron Dome problemlos zu durchbrechen. Die mächtigen französischen Rafale-Flugzeuge Indiens waren den von Pakistan eingesetzten chinesischen J-10C-Kampfflugzeugen unterlegen, was Dassault Aviation an den Aktienmärkten zum Absturz brachte.1
Im März 2023 berechnete Marcus Keupp, ein Militär-„Experte“ der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich, in der NZZ die Abnutzungsrate der russischen Armee an Panzern und kam zu dem Schluss, dass die russische Armee im Oktober 2023 keine Panzer mehr haben,2 und dies zu einer Niederlage Russlands führen würde.3
Zwei Jahre später stellt sich heraus, dass der Experte gelogen hatte, da zur gleichen Zeit ein Bericht des Kommandos der US-Streitkräfte in Europa (EUCOM) genau das Gegenteil behauptete.4
Im September 2023 berichteten ukrainische Soldaten, die damals in Deutschland ausgebildet wurden, dem Kyiv Independent, dass «die Ausbildung sie auf einen Krieg vorbereitet hat, den es so in der Ukraine nicht gibt. Sie sagten, die NATO-Offiziere würden die Realität vor Ort nicht verstehen.»5
Die Probleme der ukrainischen Armee liegen tiefer. Die deutschen Leopard-2-Panzer wurden nie so eingesetzt, wie sie sollten, und wurden zu einem krachenden Misserfolg der deutschen Hilfe für die Ukraine.6 Westlichen Medien zufolge waren die amerikanischen HIMARS «völlig ineffektiv».7 Die «intelligenten» amerikanischen M-982 EXCALIBUR 155 mm Granaten werden nicht mehr an die Ukraine geliefert, weil sie ihre Ziele nicht treffen.8
Der Westen hat von diesem Krieg absolut nichts verstanden, weder auf technischer noch auf militärischer oder strategischer Ebene. Er wollte seine Wünsche für die Realität halten. Er wollte, dass Russland schwach ist, also behauptete er, dass es schwach ist. Doch die Tatsachen sehen anders aus. Die Ukraine ist nur die Spitze des Eisbergs eines Westens, der weiterhin von seiner vergangenen Größe träumt und sich im Niedergang befindet.
Wie ich bereits sagte, liegt die Schwäche der Ukraine nicht in der Anzahl der Waffen, sondern in der Art und Weise, wie sie eingesetzt werden. Dies ist übrigens genau das gleiche Problem für die westlichen Länder, einschließlich der Schweiz. Vereinfacht gesagt, ist die Schwäche der Ukraine nicht auf ein Hardware-, sondern auf ein Softwareproblem zurückzuführen.
*Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.