Boris Johnsons Putsch

Von Ian King (London) – 30. August 2019

Spontane Demonstrationen in London und elf anderen britischen Städten von Edinburgh und Cardiff bis Bristol und Brighton, eine Petition sammelt innerhalb von Stunden 1,3 Millionen Unterschriften, die erfolgreiche konservative Parteichefin Schottlands tritt zurück, Parlamentspräsident John Bercow spricht von einer Freveltat – Das Leben in Großbritannien unter Premier Boris Johnson ist nicht langweilig. Die Entscheidung des Brexit-Betonkopfes, das Parlament für fünf Wochen im entschei-denden Zeitraum vor dem britischen Austrittsdatum aus der EU Ende Oktober einfach nach Hause zu schicken, hat unter Europa-Freunden in Großbritannien landauf, landab für Empörung  gesorgt.

Vor den geschlossenen Eisentoren der Downing Street, Amtssitz des Premiers, sammelte sich die aufgebrachte Menge. Mit Parolen wie „Rettet unsere Demokratie, stoppt den Putsch!“ riefen sie nach Johnsons Rücktritt und skandierten: „Niemand hat für Dich gestimmt!” (Nicht ganz richtig: 94.000 überwiegend weiße, reaktionäre, im Schnitt 57 Jahre alte Tories haben Johnson doch gewählt, immerhin ein verschwindend geringer Prozentsatz bei über 60 Millionen Briten.) Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer und Finanzexperte John McDonnell waren dabei, aber auch Europa-Freunde an der Basis wie Jane Keane, die dem Reporter der linksliberalen Guardian erzählte, sie habe gerade eine Krebs-OP hinter sich und habe Angst, dass nötige Arzneimittel nach eigener Aussage des Gesundheitsministers Matt Hancock bald fehlen könnten. Aber es ging der 54-Jährigen auch um Grundsätzliches. Die Konservativen, vor allem Johnson selber, haben jahrelang behauptet, ein No deal-Austritt aus der EU käme nicht in Frage, jetzt peilte sie aber genau dies an und kein Parlamentarier dürfe etwas dagegen machen. Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, sagte in Edinburgh, die selbstherrliche Entscheidung, kurzfristig ohne Parlament zu regieren, könnte das Ende der Demokratie bedeuten. Mitglieder ihrer Schottischen Nationalpartei forderten sie sogar auf, den Termin einer zweiten Volksabstimmung zu benennen – für die Trennung des Landes nördlich des Tweed von London und die Spaltung Britanniens. Auch zu Hause Gebliebene zeigten ihren Unmut: 1,3 Millionen Menschen unterschrieben binnen Stunden einen Aufruf gegen Johnsons  Suspendierung des Parlaments. Bis dieser Bericht erscheint, liegt die Zahl der Unterzeichner vermutlich bei über zwei Millionen.

Unter den Tories überwiegt bisher Begeisterung über den klugen Schachzug ihres Chefs, der ihre Taktik des allerhärtesten Brexits vor Kritik im Unterhaus schützt. Rechte Politiker wie der Ex-Minister Iain Duncan Smith geben an, Johnsons Linie werde die widerspenstigen Europäer endlich zur Räson bringen, diese würden die lästige Frage der irischen Grenze zu den Akten legen und vor Johnsons Drohung kuschen, den fälligen britischen Scheidungsbeitrag zu streichen. Jacob Rees-Mogg, der die Suspendierung vor der Queen auf ihrem schottischen Landsitz Balmoral vertreten musste, spielt gar den Anlass herunter: wie Johnson bereits gesagt habe, sei die „Proroguing” (Vertagung, Aussetzung; die Red.) des Parlaments eine Alltagsgeschichte, eine neue Regierungserklärung sei sowieso lange fällig. Aber auch Kritiker meldeten sich aus den Tory-Reihen. Ex-Finanzminister Philip Hammond fand das Verfahren inakzeptabel und überlegt, nächste Woche mit Labour, Liberalen und Nationalisten im Parlament gegen einen No Deal-Brexit zu stimmen. Ruth Davidson, der selbst Gegner das erfolgreiche Wiederbeleben der Tories in Schottland bescheinigen, trat von ihrem Posten als Oppositionsführerin im Edinburgher Parlament zurück. Angeblich spielten vor allem familiären Grűnde eine Rolle: Davidson hat vor einigen Monaten mit ihrer Partnerin einen Sohn geboren. Aber sie ist als resolute Gegnerin von Johnson und Brexit seit 2016 bekannt und wollte wohl auch gegen ihn protestieren. Mit Davidsons Ausscheiden dürften es die Nationalisten bei ihrer geplanten zweiten Unabhängigkeits-abstimmung in zwei Jahren leichter haben, und ihr unfreiwilliger Wahlhelfer, der in Schottland unbeliebte Johnson, bleibt ihnen vorerst erhalten.